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IV. Die Anfänge der Lebenshilfe 1. Nachkriegssituation Die Propaganda der Nationalsozialisten wirkte auch nach dem Krieg noch weiter. Schulbefreiung bei “Bildungsunfähigkeit” wurde geistig behinderten Menschen auferlegt, was gleichbedeutend mit sozialer Ausgliederung war. Einrichtungen wie sozialpädagogisch orientierte Horte, Tagesstätten und Beschützende Werkstätten seit 1950, hatten zunächst den Charakter von Notlösungen, die auf Initiative der Eltern entstanden. Nach 1950 bildete sich eine Vielzahl von Elternvereinigungen und Selbsthilfeorganisationen, die den institutionellen Rahmen für Bildungs-, Wohn- und Beschäftigungseinrichtungen schufen. Deren Aktivitäten änderten mit der Zeit im gewissen Maße die Einstellung der Bevölkerung gegenüber behinderten Menschen und schufen so eine Voraussetzung für die soziale Eingliederung. Auch das Bundessozialhilfegesetz von 1961 setzte die Eingliederung in die Gesellschaft auf dem Wege der “Hilfe zur Selbsthilfe” zum Ziel. Dass vor dem geschichtlichen Hintergrund von Sterilisation und „Euthanasie“ in Deutschland sofort nach 1945 alles völlig anders sein würde, war illusorisch. Eine Entwicklung wie nach 1918 war zwar nicht mehr zu befürchten, aber die Ideologie des Wirtschaftswunders, die auch als Strategie der Verdrängung und des Vergessens („Unfähigkeit des Trauerns“) interpretiert wurde, bot vor allem geistig behinderten Menschen zunächst wenig Perspektiven. Deutlich stärker noch als nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich aber für Kriegsversehrte eine starke Lobby. Anfangs gab es zu anderen behinderten Menschen Berührungsängste, die sich später jedoch weitgehend auflösten. Am 16. Juni 1953 erließ der Bund das Schwerbeschädigtengesetz. Grundgedanke des Gesetzes war es, die Personengruppe der Kriegsbeschädigten arbeitsrechtlich zu schützen und ihre Eingliederung in das Arbeits- und Erwerbsleben zu fördern. Erst das an seine Stelle getretene Schwerbehindertengesetz vom 29. April 1974 löste die Leistung des Gesetzes von der Ursache der Behinderung. Der Einfluss der nationalsozialistischen Propaganda war nach 1945 keineswegs von heute auf morgen verschwunden, im Übrigen war angesichts des gerade überstandenen Massenmordes das Selbstbewusstsein der Eltern behinderter Kinder nicht übermäßig stark ausgebildet. Zudem hatte das alte Vorurteil überdauert, demzufolge eine Behinderung mit irgendeinem schuldhaften Verhalten der Eltern zu tun haben müsse. Tom Mutters, der Gründer der Lebenshilfe, beschrieb die Situation wie folgt: „Außer den Betreuungsmöglichkeiten in den Anstalten gab es keine Hilfen für Menschen mit geistiger Behinderung. Unter ihren Eltern herrschten Ratlosigkeit und Verzweiflung, auch als Nachwirkung auf den Massenmord an geistig behinderten Menschen. Viele Eltern versteckten ihr geistig behindertes Kind vor der Öffentlichkeit. Das gesellschaftliche Urteil, geistig behinderte Menschen als ‚lebensunwert‘ zu betrachten, lebte auch nach dem Krieg weiter fort. Und es gab kaum jemanden, der den Eltern half oder ihnen Mut machte... Nicht nur die Eltern, auch die Ärzte waren damals meistens ratlos. Viele von ihnen hatten ja ihre Ausbildung noch während des Dritten Reiches gemacht und

gelernt, dass es sich nicht lohnt, sich um solche Kinder zu mühen und für sie zu sorgen. Den Eltern wurde geraten, ihre Kinder in Heimen unterzubringen. Aber der Ruf der Heime hatte unter dem Naziregime gelitten. Die Eltern wollten ihre Kinder da nicht hingeben. Sie wollten lieber in der Familie für sie sorgen. Doch die Aufgabe, für ein geistig behindertes Kind zu sorgen, war für viele Familien eine derart belastende Aufgabe, dass manche daran zerbrachen.“ Nach 1945 gab es die kirchlichen Anstalten, die damals bei allem Engagement des Personals aber noch nicht als Heim, als Ersatz für ein Zuhause gelten konnten. Abgesehen davon war die Unterbringung teuer, denn die öffentliche Hand übernahm die Kosten nur unter bestimmten Bedingungen. Der Kontakt zu dem Kind konnte bei einer Unterbringung nur stark eingeschränkt aufrechterhalten werden, da in den 50er Jahren das Auto noch keine Selbstverständlichkeit war. Die geringen Hilfen für behinderte Menschen vor Ort brachten es aber mit sich, dass Familien viel eher als heute mit der Erziehung eines behinderten Kindes überfordert waren.

2. Tom Mutters und die Bundesvereinigung der Lebenshilfe Der Holländer Tom Mutters, geboren 1917 in Amsterdam, kam 1949 als Beauftragter im Kindersuchdienst der internationalen Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nation nach Deutschland. 1952 bekam er durch den UN-Hochkommissar für Flüchtlinge den Auftrag, sich um die geistig behinderten Kinder der ausgewanderten Flüchtlinge und um Personen, die während des Nationalsozialismus verschleppt wurden, zu kümmern. Tom Mutters: „So kam ich in die Heil- und Pflegeanstalt in Goddelau bei Darmstadt und sah, in welchem jämmerlichen Zustand die Kinder dort lebten. Die Anstalt selbst war von einer Mauer umgeben. Viele Gebäude hatten Gitter vor den Fenstern. Die Einrichtung für psychisch kranke und behinderte Menschen sah eher aus wie ein Gefängnis. Hier waren schwer geistig und mehrfach behinderte Kinder in zwei Sälen zusammengepfercht. Außer der notwendigsten körperlichen Pflege gab es für sie keinerlei Hilfe. Der Gestank in diesen Räumen verschlug einem fast den Atem. Der stellvertretende Direktor dieser Anstalt sagte wörtlich zu mir: ‚Kümmern Sie sich nicht um diese Kinder. Sie sind zwar Pädagoge, aber auch Sie können aus diesen Idioten keine Professoren machen. Machen sie sich hier eine schöne Zeit. Wir sorgen schon für diese Kinder‘“. Geistig behinderte Menschen waren damals vielfach mit psychisch kranken Menschen, Alkoholikern und unzurechnungsfähigen Sexualverbrechern untergebracht. Tom Mutters beschloss, hier etwas zu ändern. Er sammelte Geld, die ersten Spenden kamen aus dem Ausland. Und so konnte er ziemlich schnell neue Betten, Möbel, Kleidung und vieles andere kaufen und kleinere Zimmer für eine Anzahl der Kinder einrichten. Über die Arbeit von Tom Mutters in Goddelau wurde viel in der Presse berichtet und so bekam er viel Post von Eltern, die anfragten, ob er nicht auch etwas für ihre Kinder tun könne. Einige diese Eltern lud Tom Mutters nach Marburg, wo in der Bibliothek der kinderpsy-

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